Nach Schopenhauer wird jeder irgendwie vorzügliche Mensch, jeder, der nur nicht zu den von der Natur so traurig dotierten fünf Sechsteln der Menschheit gehört, „nach dem vierzigsten Jahre, von einem gewissen Anfluge von Misanthropie schwerlich frei bleiben“.[i]
Obwohl es hier nicht um Schopenhauer als Menschenfeind, sondern um Philanthropie, um Menschenliebe, um Schopenhauer als Menschenfreund geht, sei im Zusammenhang mit dem „Leiden der Welt“ etwas zu seiner Misanthropie und seinem Pessimismus festgehalten.
Im April 1853 machte Schopenhauers Freund, der Advokat Martin Emden (1801-1858), den Philosophen auf einen Beitrag in einer englischen Zeitung aufmerksam, in welchem der Name Schopenhauers stand.[ii]
Tatsächlich war 1853 in The Westminster Review unter dem Titel „Iconoclasm in German Philosophy“ ein umfangreicher Artikel von John Oxenford (1812-1877) „über die Schopenhauer'sche Philosophie“ erschienen.[iii] — Schon seit 1851 korrespondierten Ernst Otto Timotheus Lindner (1820-1867), Redaktor der Vossischen Zeitung, und Schopenhauer miteinander.[iv]
In einem Schreiben vom 27. April 1853 meldete Schopenhauer den Fund Dr. Lindner: „Wenn die Recension, die von mir überhaupt zu handeln scheint, irgend von Belag ist; so wären Sie gerade der Mann, dem deutschen Publiko davon zu erzählen, sei es im 'Ausland', oder sonst: denn die Leute, welche eigentl Englisch verstehn, sind noch immer selten.“[v] Lindner antwortete umgehend, er habe in Berlin sofort ein Exemplar davon aufgetrieben.[vi]
Er übersetzte dann zusammen mit seiner Frau den Text, veröffentlichte ihn in der Vossischen Zeitung, liess eine „kleine Anzahl von Separatabzügen machen“ und sandte im Juni 1853 Schopenhauer 25 Exemplare.[vii] Ein „Abdruck aus der Voß'schen Zeitung“ erschien dann 1854 in Briefe über die Schopenhauer'sche Philosophie.[viii]
Das Urteil Oxenfords, Schopenhauer sei „ein erklärter 'Pessimist'“ korrigierte Lindner in einer umfangreichen Anmerkung: „Der ethische Standpunkt Schopenhauer's ist einem gedankenlosen Pessimismus in der gewöhnlichen Bedeutung des Wortes eben so entgegengesetzt, wie einer bodenlosen Misanthropie. Dies wird schon aus folgender äußerst bezeichnenden Stelle der 'Parerga', II. 169, erhellen:“[ix]
„Daher möchte ich, im Gegensatz zu besagter Form des Kantischen Moralprincips, folgende Regel aufstellen: bei jedem Menschen, mit dem man in Berührung kommt, unternehme man nicht eine objektive Abschätzung desselben nach Werth und Würde, ziehe also nicht die Schlechtigkeit seines Willens, noch die Beschränktheit seines Verstandes und die Verkehrtheit seiner Begriffe in Betrachtung; da Ersteres leicht Haß, Letzteres Verachtung gegen ihn erwecken könnte: sondern man fasse allein seine Leiden, seine Noth, seine Angst, seine Schmerzen ins Auge: — da wird man sich stets mit ihm verwandt fühlen, mit ihm sympathisiren und, statt Haß oder Verachtung, jenes Mitleid mit ihm empfinden, welches allein die Agape ist, zu der das Evangelium aufruft. Um keinen Haß, keine Verachtung gegen ihn aufkommen zu lassen, ist wahrlich nicht die Aufsuchung seiner angeblichen 'Würde', sondern, umgekehrt, der Standpunkt des Mitleids der allein geeignete.“[x]
In The Westminster Review ist am Schluss von „this misanthropic sage of Frankfort“ die Rede, von diesem „misanthropischen Weisen von Frankfurt“, was Lindner in einem Epilog mit der Bemerkung korrigiert, Schopenhauers Ansicht führe „weder zur Misanthropie noch zum Nihilismus“.[xi]
In Kapitel VI „Vom Unterschiede der Lebensalter“ in den kleinen philosophischen Schriften steht wie erwähnt: „Jeder irgend vorzügliche Mensch, jeder, der nur nicht zu den von der Natur so traurig dotirten 5/6 der Menschheit gehört, wird, nach dem vierzigsten Jahre, von einem gewissen Anfluge von Misanthropie schwerlich frei bleiben. Denn er hatte, wie es natürlich ist, von sich auf Andere geschlossen und ist allmälig enttäuscht worden, hat eingesehn, daß sie entweder von der Seite des Kopfes, oder des Herzens, meistens sogar Beider, ihm in Rückstand bleiben und nicht quitt mit ihm werden; weshalb er sich mit ihnen einzulassen gern vermeidet; wie denn überhaupt Jeder nach Maaßgabe seines inneren Werthes die Einsamkeit, d. h. seine eigene Gesellschaft, lieben oder hassen wird.“[xii]
In verschiedenen Briefen befasste sich Schopenhauer dann mit Lindners Arbeit und dessen Übersetzung. So schrieb er am 9. Mai 1853: „In meinem gestrigen Briefe habe ich vergessen, Sie zu bitten, dass, wenn Sie von der Review irgend etwas übersetzen sollten, Sie doch ja den Ausdruck misanthropic nicht wiedergeben wollen. Denn, in Folge meiner zurückgezogenen Lebensweise tragen die bösen Zungen schon hier dergleichen herum; da ihnen jedes Recht ist ihre Revange daran zu suchen.“ Einen Monat später kam aber eine Korrektur: „Ich habe sogar den 'Misanthropen' selbst wieder hineingeschrieben. Man muß treu und ehrlich übersetzen. Was schadet's denn am Ende?“[xiii]
Schopenhauer nannte seine Freunde, die nicht über ihn schrieben, „Jünger“. Wer für ihn „die Feder ergriff“, war ein „Evangelist“ oder ein „Apostel“.[xiv] Lindner war nach Schopenhauers eigener Aussage „nicht nur ein eifriger Apostel, sondern auch ein thätiger Evangelist“ seiner Lehre und ein „begeisterter Verkünder der Schopenhauerschen Philosophie“.[xv]
Apropos Misanthrop und Pessimist hat allerdings kein geringerer als der Schopenhauerianer Arthur Hübscher (1897-1985) den Philosophen einmal in vergnüglichem Zusammenhang als „großen Pessimist“ bezeichnet.[xvi] Und Schopenhauer selber schrieb, sein System weiche von den übrigen ab und stehe allein, weil es Pessimismus lehre.[xvii]
So gilt denn auch unser Philosoph als ein Hauptvertreter des Pessimismus. Dieser Pessimismus zeigt sich unter anderem in seiner Lehre von der „Verneinung des Willens zum Leben“, vor allem aber in den Abschnitten „Nachträge zur Lehre von der Nichtigkeit des Daseyns“ und „Nachträge zur Lehre vom Leiden der Welt“ im Zweiten Band der Parerga und Paralipomena.[xviii] Die Lektüre dieser „Nachträge“ kann einem zum Pessimisten und schwermütig machen.
[i] D, 4, S. 533.
[ii] GBr (1978), S. 309, 575.
[iii] III. Iconoclasm in German Philosophy, in: The Westminster Review, January and April, 1853, New Series, Vol. III, London 1853, S. 388-407, 394. Dort steht: „In a word he is a professed 'Pessimist'.“ Frauenstädt, Julius: Briefe über die Schopenhauer'sche Philosophie, Leipzig 1854, S. 1-31, 10: „Mit einem Worte, er ist ein erklärter 'Pessimist'.“ Vgl. Schopenhauer-Jahrbuch, 12. Band, 1923/25, S. 116-165. Schopenhauer-Handbuch, S. 383-388.
[iv] D, 15, S. 81-82. GBr (1978), S. 273-274, 563.
[v] GBr (1978), S. 309.
[vi] D, 15, S. 199.
[vii] D, 15, S. 211-212, 214.
[viii] S. 1-31.
[ix] Frauenstädt: Briefe über die Schopenhauer'sche Philosophie, 10.
[x] D, 5, S. 221-222. Pandectae, S. 72.
[xi] D, 15, S. 200. Frauenstädt: Briefe über die Schopenhauer'sche Philosophie, S. 30.
[xii] D, 4, S. 533.
[xiii] Lindner, Frauenstädt, S. 108, 110. GBr (1978), S. 311-312, 313, 389, 420, 471, 606.
[xiv] Borch, Rudolf: Schopenhauer und Dorguth, in: Schopenhauer-Jahrbuch, 2. Band, 1913, S. 3-8. Gespr, S. 219. Schopenhauer-Handbuch, S. 270, 271.
[xv] GBr (1978), S. 314, 563.
[xvi] Schopenhauers Anekdotenbüchlein, hg. von Arthur Hübscher, Frankfurt am Main 1981, S. 30.
[xvii] D, 3, S. 423. Wagner: Register, S. 369.
[xviii] D, 5, S. 308-331, 338-349.
Die weiteren Teile der Serie «Arthur Schopenhauer als Menschenfreund» finden Sie in unserem Schopenhauer-Dossier.