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Stadt St.Gallen
20.12.2025
15.12.2025 16:26 Uhr

St.Gallens vergessene Abstinenzbewegung

Im Alkoholfreien Restaurant Gallusplatz (früher Volksküche) fand am 26.02.1937 die Jahresversammlung des AGB St.Gallen statt. Im Anschluss an die administrativen Generalversammlungstraktanden lauschten die Anwesenden Sonaten von Beethoven und alkoholkritischer Mundartdichtung
Im Alkoholfreien Restaurant Gallusplatz (früher Volksküche) fand am 26.02.1937 die Jahresversammlung des AGB St.Gallen statt. Im Anschluss an die administrativen Generalversammlungstraktanden lauschten die Anwesenden Sonaten von Beethoven und alkoholkritischer Mundartdichtung Bild: StadtASG CA/626 (1934)
In diesen Tagen wird in Bundesbern über Alkoholempfehlungen diskutiert. Grossflächige Debatten über den Alkoholkonsum reichen jedoch bis ins 19. Jahrhundert zurück. Damals engagierten sich viele in alkoholkritischen Vereinen. Einer davon, dessen abstinente Mitglieder sich politisch und gesellschaftlich einbrachten, soll hier vorgestellt werden: der Alkoholgegnerbund, Sektion St.Gallen.

Ein Zusammenspiel mehrerer Faktoren führte im 19. Jahrhundert dazu, dass die Debatte um Alkohol an Schärfe gewann. So veränderte sich beispielsweise das Trinkverhalten. Im Zuge der Industrialisierung diente der Alkohol verstärkt als rituelles Symbol oder als Mittel, um der Lebensrealität zu entfliehen. Hinzu kam, dass günstiger Alkohol einfacher verfügbar war. Schnaps diente dabei auch als Nahrungsmittelersatz, wenn auch der Hunger damit lediglich unterdrückt statt gestillt wurde.

Zum Vergleich: Der Konsum reinen Alkohols pro Kopf betrug in der Schweiz im Jahr 2020 7,6 Liter, 1880 waren es 14,8 Liter. Die sich formierenden Gegenbewegungen erachteten die geforderte Temperenz oder später die Abstinenz jedoch nicht nur als Mittel, um Alkoholismus und das daraus potenziell resultierende Elend zu bekämpfen oder vorzubeugen. Sie versuchten auch, die Gesellschaft in ihrem Sinne zu reformieren und zu disziplinieren.

Die Rahmenbedingungen von Debatten um Alkohol unterlagen seit dem 19. Jahrhundert einem stetigen Wandel, sodass man die alkoholkritische Bewegung von früher und heute nicht gleichsetzen kann.

Widerstand gegen den Alkoholkonsum
Um 1880 entstand in der Schweiz eine Vielzahl verschiedener Organisationen, die sich dem Kampf gegen den Alkohol verschrieben hatten. Die Alkohol-Abstinenzbewegung gehörte um 1900 zu den wichtigsten sozialen Bewegungen der Schweiz. Sie umfasste auf ihrem Höhepunkt rund 60 000 Mitglieder und war damit die drittgrösste sozialpolitisch engagierte Bewegung.

Die entstandene Abstinenzbewegung lässt sich in vier Kategorien unterteilen: die protestantische, die sozialhygienische, die katholische und die sozialistische Richtung.

Um die Jahrhundertwende wurden in St.Gallen beispielsweise folgende Vereine beziehungsweise Ortssektionen gegründet: Verein vom Blauen Kreuz, Humanitas San Gallensis (Studentenverbindung), Katholische Abstinentenliga, Guttemplerloge Freiheit, Alkoholgegnerbund und Verein Abstinenter Eisenbahner.

Der Alkoholgegnerbund Sektion St.Gallen und seine Tätigkeiten
Im Stadtarchiv St.Gallen befindet sich das Archiv des Alkoholgegnerbunds, Sektion St.Gallen (kurz: AGB SG). Leider ist der Bestand unvollständig. Die Archivalien vom Beginn des Vereins bis in die 1920er- und 1930er-Jahre gingen damals verloren. Somit fehlen potenziell spannende Protokolleinträge oder Korrespondenzen, beispielsweise zur angenommenen eidgenössischen Volksinitiative für ein Absinthverbot im Jahr 1908 oder zur abgelehnten Volksinitiative für ein Branntweinverbot im Jahr 1929.

Dafür ist die Zeit danach bis zum Ende des Vereins in den 1990er-Jahren gut dokumentiert. Enthalten sind Korrespondenzen, Vorstandsprotokolle, Jahresberichte, Mitgliederverzeichnisse usw.

Der AGB St.Gallen traf sich auch im Café & Speiserestaurant zur Kaufleuten an der Merkurstrasse 1. Eine Aufnahme von Foto Gross gibt einen Einblick in die Räumlichkeiten Bild: StadtASG PA Foto Gross, PK1343

Am 22. Januar 1890 gründeten zwölf Personen, darunter drei Techniker, ein Anwalt und acht Ärzte beziehungsweise Medizinstudenten, den «Internationalen Verein zur Bekämpfung des Alkoholgenusses» in Zürich (1895 Umbenennung in Alkoholgegnerbund). In den darauffolgenden Jahren entstanden in der Schweiz nach und nach Ortssektionen, so auch in der Stadt St.Gallen (1898). Der Verein finanzierte sich durch Mitglieder- und Gönnerbeiträge sowie durch einen Anteil des Alkoholzehntels.

Der Verein ist der sozialhygienischen Richtung zuzuordnen. So heisst es beispielsweise in den Zentralstatuten der St.Galler Gruppe (Neuauflage November 1925): «Der Verein bekämpft einzig vom hygienischen, sittlichen und volkswirtschaftlichen Standpunkt aus den Alkoholgenuss als einen Faktor, der die jetzigen und die späteren Generationen in Bezug auf Gesundheit, geistiges und materielles Wohlbefinden aufs Äusserste schädigt.»

Der AGB unterscheidet sich von anderen Abstinentenvereinen dadurch, dass religiöse Überzeugungen und politische Einstellungen für die Mitgliedschaft keine Rolle spielen sollten. Dies ermöglichte es dem Verein, auch in St.Gallen die anderen Vereine bei grösseren Projekten zusammenzubringen. Der St.Galler AGB beteiligte sich am städtischen und kantonalen Verband der Abstinentenvereine sowie am Schweizerischen AGB. Nicht selten waren Mitglieder des AGB auch in weiteren Abstinenzvereinen engagiert.

Der Verein stand Männern und Frauen offen. Die Mitgliederlisten zeugen jedoch von einem Übergewicht an männlichen Mitgliedern. Um 1900 waren lediglich ein Viertel des Schweizerischen AGB Frauen. Beim AGB SG (1933–1992) lag der Frauenanteil zwischen 25 und 40 Prozent, insbesondere ab den 1960er-Jahren nahm er ab. Eine gegenläufige Tendenz war bei den religiösen Vereinen zu beobachten. So zählte die Katholische Abstinentenliga, Sektion St.Gallen, beispielsweise im Jahr 1907 108 männliche und 268 weibliche Mitglieder.

Das zentrale Mitbringsel eines Mitglieds war selbstverständlich die Abstinenz. Diese sollte nach aussen getragen werden, um eine Vorbildfunktion zu erfüllen. Nicht-Abstinente durften dem Verein nicht beitreten. Bei einem Rückfall musste man dies dem Vorstand mitteilen und den Mitgliedsausweis zurücksenden.

Der Bund hatte einen gewissen bürgerlichen Charakter: Zwar wurden schweizweit auch Leute der Arbeiterklasse aufgenommen, doch die Vorstände rekrutierten sich mehrheitlich aus dem Bürgertum. Dies spiegelt sich auch in der Sektion St.Gallen wider. Ein nicht unerheblicher Teil der Mitglieder war akademisch gebildet. Sie arbeiteten im geistlichen, schulischen oder medizinischen Bereich.

Dies übertrug sich auch auf die Vereinsaktivitäten. So organisierte der AGB SG beispielsweise Vorträge oder stiess solche an. So organisierte man im Jahr 1937 gemeinsam mit der Turn- und Sportvereinigung der Stadt St.Gallen einen Filmvortrag in der Aula der Handelshochschule. Das Thema lautete «Turnen, Sport und Alkohol».

1940 lud man zu einem Vortrag über «Alkohol und Verbrechen» ins Restaurant Kaufleuten ein. Zuweilen stand das Engagement auch im Kontext einer bevorstehenden Abstimmung oder eines aus ihrer Sicht vorhandenen Missstands. So verfasste man Leserbriefe oder nahm direkt Kontakt mit Politikerinnen und Politikern auf.

Der alkoholkritischen Bewegung missfielen die unzähligen Wirtshäuser; so förderten sie alkoholfreie Restaurants oder betrieben diese selbst. Das alkoholfreie Restaurant und Gemeindestube Habsburg am Burggraben 6 wurde 1919 durch den Gemeinnützigen Frauenverein, Sektion St.Gallen gegründet Bild: StadtASG PA/II/25/F02

Der St.Galler Alkoholgegnerbund beteiligte sich darüber hinaus auch an grösseren Projekten. So unterstützte der Bund beispielsweise die Fürsorgestelle St.Gallen oder beteiligte sich an der Verbreitung von Alternativen zu alkoholischen Getränken. Im Dezember 1944 war man beispielsweise an einer Aktion auf dem Marktplatz beteiligt, bei der für den Traubensaft «Grapillon» geworben wurde. Das Motto lautete: «Werktags den Süssmost und am Festtag den Traubensaft.»

Ein wichtiger Pfeiler des Vereins und des ehrenamtlichen Engagements des Vorstands und der Mitglieder war die Verbreitung aufklärender Broschüren oder der Zeitschrift Die Freiheit, die 1892 gegründet wurde. Diese Bewerbung erfolgte oft auch ungefragt. So stellte der Bund im Jahr 1954 allen Ärzten der Stadt St.Gallen eine Schrift von Dr. med. Walter Keller, dem Zentralpräsidenten des Schweizerischen AGB, mit dem Titel «Alkohol als Stärkungs- und Heilmittel» zu.

Gemäss Jahresbericht blieb ein Echo auf die Zusendung aus. Wichtig war auch durchgehend die Akquisition neuer Mitglieder. Im Bestand befinden sich ein Dutzend Briefe, mit denen Personen um eine Mitgliedschaft oder zumindest eine Gönnerschaft gebeten wurden.

Das lange Ende des Bundes
Hieran sollte es schliesslich scheitern. Bereits im Bericht von 1945/46 heisst es: «Der AGB SG ist leider ein sterbender Verein.» Im Jahr 1943 war der AGB SG einer von 19 Vereinen mit insgesamt über 1300 Mitgliedern im städtischen Abstinenzverband und lag mit 56 Mitgliedern im Mittelfeld.

Das «Sterben» des Vereins steht in einem grösseren Kontext: Die Abstinenzbewegung erlebte ab dem Zweiten Weltkrieg einen zunehmenden Bedeutungsverlust. Der Staat übernahm zunehmend Verantwortung in den Bereichen Suchtprävention und Suchtberatung. Die bislang ehrenamtlich ausgeführten Tätigkeiten wurden schrittweise zu staatlichen oder stark staatlich subventionierten Aufgaben. Vereine, die sich mit der Fürsorge für Alkoholkranke und deren Familien engagieren, wie beispielsweise das Blaue Kreuz, konnten sich behaupten.

Im Historischen Lexikon der Schweiz findet sich folgende Bewertung der Abstinenzbewegung: «Insgesamt war die Abstinenzbewegung gesellschaftlich erfolgreicher als politisch. Sie trug wesentlich dazu bei, dass der Alkoholkonsum in der Öffentlichkeit problematisiert, der gesellschaftliche Trinkzwang gemildert und Behandlungssysteme für Alkoholabhängige entwickelt wurden.»

Der Verein war bis zum Schluss gesellschaftlich und politisch aktiv. So beteiligte man sich am Tag der Nüchternheit, bei dem Flugblätter und Broschüren beschafft und verteilt wurden. Zudem wurde an Stand- und Apfelverteilaktionen mitgearbeitet und Aufklärungsarbeit geleistet. Der Verein beteiligte sich beispielsweise am Abstimmungskampf für die Volksinitiative «Zur Verminderung der Alkoholprobleme» (Werbeverbot für Alkohol und Tabak), die schliesslich mit 74,7 Prozent Nein-Stimmen abgelehnt wurde.

Die Mitgliederzahl schrumpfte im Zeitraum von 1940 bis 1992 von 55 auf 15, sodass die ehrenamtlichen Aufgaben nicht mehr ausreichend ausgeführt werden konnten. Wie schon bei anderen Abstinenzvereinen folgte das Unausweichliche. Im letzten Jahresbericht der Sektion St.Gallen des AGBs liest man: «Infolge Überalterung und Vielfachbeanspruchung der wenigen Aktiven musste der Verein per Ende 1993 aufgelöst werden.»

Daniel Stucky, Stadtarchiv St.Gallen
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