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Stadt St.Gallen
31.03.2024
24.03.2025 09:16 Uhr

Mit dem Tataren-Schlatter im «südlichen Ruβland», Teil 3

Ein Tarantass (Reisewagen) in der südrussischen Steppe
Ein Tarantass (Reisewagen) in der südrussischen Steppe Bild: Archiv
Vor rund 200 Jahren bereiste der Stadt-St.Galler Kaufmann Daniel Schlatter das «südliche Russland». Als sich Schlatter dort aufhielt, war die Gegend der heutigen Ukraine grösstenteils ein blühendes Land. Ernst Ziegler hat die Reisen des «Tataren-Schlatters» zu Orten, die uns sehr bekannt vorkommen, nachgezeichnet. Heute: Die Rückreise in die Schweiz.

Dann aber erreichte Daniel Schlatter ein wichtiger Brief aus St. Gallen, und er verliess am 15. Oktober 1822 die Moletschna. Ali schenkte ihm ein Pferd mit Sattel und Zaum, und er wollte seinen Freund vom Dorf Dömenge «über die öden Steppen bis auf die groβe Poststraβe bei Cherson begleiten». Nach drei Tagen begegneten sie Deutschen, die nach Odessa reisten, so dass die beiden Freunde sich trennten. Beim Abschied schloss Ali «mit dem aufrichtigen Wunsche», dass Daniel «bald wieder glücklich zurückkommen möchte».

Durch die kaum bewohnte, wasserlose Steppe, auf der sich «nur in groβen Entfernungen ein Dorf», eine Kaserne oder «ein elendes Wirthschaftsgebäude» zeigte, kamen die Reisenden an den Dnjepr. Schlatter schrieb, er sei jeden Tag etwa siebzig Kilometer geritten, «was in diesen Gegenden wenig ist». Bei Beryslaw überquerten sie den Dnjepr, wo «die groβe, mit steinernen Werstpfählen versehene Poststraβe» angetroffen wurde.

Die Reise ging dann weiter über den Inhulez nach Cherson, «einer groβen Stadt an dem Ausflusse des Dnjepers in das schwarze Meer». Bei Nikolajew, «einer groβen Stadt mit vielen schönen Gebäuden und breiten Straβen», wurde der Bug überquert. Hier lag ein Teil der russischen Kriegsflotte. Schlatter kam schliesslich nach Odessa, «einer der schönsten Städte Ruβlands», die 1794 auf Anweisung der Kaiserin Katharina II. (1729-1796), die man «die Grosse» nannte, gegründet worden war.

KATHARINA IN SÜDRUSSLAND

Die russische Zarin gewann durch zwei Kriege gegen das Osmanische Reich 1783 die weiten Küstengebiete des Schwarzen einschliesslich des Asowschen Meeres vom Kaukasus bis zum Dnjestr (Taurien) und die Krim. In der Folge kam es zur Gründung neuer Dörfer und Städte wie etwa Cherson, Nikolajew, Sewastopol. Später begann eine gezielte Ansiedlung von vor allem Deutschen und Schweizern.

Katharina reiste 35 Jahre vor Daniel Schlatter Anfang Januar 1787 allerdings nicht alleine, sondern mit grossem Gefolge nach dem «südlichen Ruβland». Von ihrer Residenz Zaraskoje Selo bei Sankt Petersburg zog der Tross auf dem Landweg nach Kiew, das die Zarin «abscheulich nannte». Hier musste sie sich drei Monate aufhalten bis das Eis des Dnjepr geschmolzen war. Dann ging sie am 22. April an Bord ihrer Galeere, um auf dem Fluss nach Cherson zu reisen, wo sie am 12. Mai ankam.

Katharina die Grosse Bild: Archiv

Louis-Philippe Comte de Ségur (1753-1830) machte als Botschafter Frankreichs diese Reise mit. In seinen «Denkwürdigkeiten» schrieb er: «Endlich, am 1. Mai 1787 [anderer Kalender] schiffte sich die Kaiserin auf ihrer Galeere ein, welcher die glänzendste Flotte folgte, die je ein groβer Fluβ getragen hat. Sie bestand aus mehr als 80 Fahrzeugen, mit 3000 Menschen, theils Dienerschaft, theils Schiffleuten: an der Spitze waren 7 Galeeren von eleganter Form, von majestätischer Gröβe, schön gemahlt, mit zahlreicher, gleich gekleideter Dienerschaft. Gold und Seide schimmerten in den reich geschmückten Kajüten.

Eine dieser Galeeren, welche der Kaiserin folgten, nahm die Herren von Cobenzel und Fitz-Herbert an Bord, eine andere war für den Prinzen von Ligne und mich bestimmt, die übrigen für den Fürsten Potemkin, für seine Nichten, für den Oberstkammerherrn, den OberstStallmeister, die Minister und Groβe, welche die Ehre hatten Catharinen zu begleiten. Der Rest der Flotille trug die niederern Beamten, das Gepäcke und die Vorräthe. Fräulein Protasow [Hofdame] und der Graf Mamonow [Günstling] waren auf der Galeere Ihrer Majestät. – Jeder von uns traf ein ebenso prächtiges, als elegantes Zimmer und Schlafkabinet an, einem bequemen Sopha, ein herrliches Bett von chinesischem Tafft und einen Schreibtisch von AcacienHolz. – Jede Galeere hatte Musik. Eine Menge von Schaluppen und Kähnen schwärmten an der Spitze und an den Seiten des Geschwaders, das einer Zauberschöpfung glich.»

Von Cherson aus bereiste die Zarin und «Selbstherrscherin aller Reussen» mit einer kleineren Gesellschaft Taurien und die Krim. Im August 1787 war die Kaiserin wieder in Sankt Petersburg.

DER SANKTGALLER KAUFMANNSNDIENER REIST OHNE GEFOLGE

Die Reise von der Molotschna, von Melitopol nach Odessa, war damals «ziemlich beschwerlich für den, der sie nicht in eigenem Reisewagen und mit der Post macht». In den einfachen Unterkünften war «sehr wenig zu finden, und vor Ungeziefer ist man in den Häusern nicht sicher. Man zieht es daher vor, auf der Steppe neben der Straβe zu bivouakiren». – Gemäss seiner Beschreibung scheint sich Schlatter längere Zeit in Odessa aufgehalten zu haben.

POLEN, GALLIZIEN

Über die abenteuerliche Weiterreise sei bloss noch folgendes auszugsweise berichtet: «Mit sehr guter Gelegenheit setzte ich die Reise durch die Gouvernements von Cherson, Podolien und Volhynien bis nach Brody in Gallizien fort, und zwar auf dem sogenannten Judenweg, der um hundert Werste kürzer ist als die Poststraβe.

Die gute Kalesche wurde von vier starken Pferden gezogen, aber leider von einem Juden geleitet, mit dem wir auch Sabbat halten muβten. Der gröβte Nachtheil für den Beutel würde den Juden nicht bewegen, den Sabbat zu brechen. Der Flachkopf von Christen lacht über eine solche Pietät als über Aberglauben; der Denkende aber schämt sich wohl eher für sich und seine Religionsgenossen, die darin vom Juden meist übertroffen werden, was freilich nicht allemal innern Werth hat.»

Es ist nicht alles schmeichelhaft, was Schlatter über die Juden schreibt. - Auf dem Weg von Odessa «durch das alte Polen» vor dessen erster Teilung 1772 bis an die Grenze führte die Reise durch Podolien von Balta bis zur Grenzstadt Radziwilow (Radywyliw). Für die vermutlich gut 650 Kilometer lange Reise benötigte Schlatter neun Tage.

Jüdische Bauernhäuser Bild: Archiv

JUDEN IN OSTEUROPA

In Podolien und Wolhynien sah der «pietistisch geprägte» Stadtsanktgaller «fast nur Juden». In Osteuropa, in Polen, Litauen, Russland und in der Ukraine, lebten zu Ende des 18. Jahrhunderts etwa anderthalb Millionen Juden. «Verstand, Witz und Klugheit ist dem polnischen Juden fast durchgehends eigen», stellte Schlatter fest. Neben religiösem Reichtum und grosser Gelehrsamkeit war jedoch die Mehrheit dieser Juden bettelarm. Schlatter fiel denn auch «der Abstand zwischen den elenden Erdhütten der Bauern und einigen groβen, prachtvollen Gebäuden Adelicher» auf.

Seit dem 17. Jahrhundert war es hier immer wieder zu Pogromen gekommen. Vor dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen 1939 lebten in Polen und in Russland etwa acht Millionen Juden. Die Mehrheit wurde während des Holocausts umgebracht. - Diese ostjüdische Welt, ihre Armut und ihren Reichtum hat der Journalist Roman Vishniac (1897-1990) in seinen zwei Photobänden festgehalten: «Verschwundene Welt» und «Wo Menschen und Bücher lebten, Bilder aus der ostjüdischen Vergangenheit». (Vgl. dazu unter anderem beispielsweise von Israel J. Singer «Von einer Welt, die nicht mehr ist, Erinnerungen».)

IN ÖSTERREICH

An der Grenze zwischen Russland und dem damaligen Galizien gab Schlatter gerne «dem Kosaken, der den Schlagbaum öffnete, sein Schnaps- oder Branntweingeld», und er betrat mit Freude «Oesterreichs Boden».Er kam nach Brody, wo er sich mehrere Tage lang aufhalten musste, «da sich ein jeder aus Ruβland kommende Reisende mit einem österreichischen neuen Passe aus Lemberg zu versehen hat».

Brody war eine Freihandelsstadt und wurde, nach Schlatter, «fast allein nur von Juden bewohnt, wird auch wohl das teutsche Jerusalem genannt». Im Jahr 1869 zählte man 18‘700 Einwohner; achtzig Prozent davon waren Juden. Unter der deutschen Besatzung ab 1941 wurden etwa 9000 jüdische Einwohner ermordet.

«Die Reise schien mir so gut als beendigt», schrieb Schlatter in Brody, das er «in einer sogenannten Wiener Landkutsche» mit einigen Reisegefährten verliess. Über Lemberg und Krakau kam er schliesslich nach der «Kaiserstadt Wien«. Von Brody bis Wien waren es 110 Meilen oder etwa 850 Kilometer, die in dreizehn Tagen zurückgelegt wurden. Nach drei Tagen in Wien ging es über Salzburg, Innsbruck, Bludenz und Feldkirch in die Schweiz.

«Welch ein Heimathsgefühl, als ich durch die vormals so oft von mir bewanderten Wege Appenzells eilte, und auf Vögelisegg den Bodensee statt des schwarzen Meeres erblickte, welches ich vor sechs Wochen verlassen hatte!» Am 7. Dezember 1822 war Daniel Schlatter wieder in St. Gallen.

Lesen Sie im Teil 4 am nächsten Wochenende: Daniel Schlatter in St.Gallen.

Ernst Ziegler, ehem. St.Galler Stadtarchivar
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