«Rein faktisch sind sich alle unterdessen einig. Die „Ostschweiz“ resümierte schon eine Woche vor dem Entschluss des Katholischen Konfessionsteils, die Rückführung Schepeneses zu prüfen, dass „allen klar ist, dass es sich bei der Mumie um Grabraub handelt“. In ihren täglichen News, in denen sie die Einfache Anfrage des SVP-Politikers Götte an den Kantonsrat behandelte, sprach Tele Ostschweiz von „Raubkunst“. Auch die Stiftsbibliothek unterstreicht in ihrem Standardwerk „Schepenese“ auf Seite 59, dass es sich um eine „Raubgrabung“ handele.
Die ägyptischen Archive ergeben – wie der „Offene Brief der ägyptischen Forschungs- und Zivilgesellschaft“ festhält, den 200 ägyptische Forscher*innen und Menschrechtler*innen, unter anderem der Generaldirektor des ägyptischen Ministeriums für Altertümer unterschrieben haben – das gleiche Bild: Es lag 1820 keine Grabungserlaubnis für Schepenese vor.
Ähnlich einig wie in juristischer Hinsicht ist sich die Fachwelt über die Ausstellungspraxis.
Der im deutschsprachigen Raum führende Ägyptologe Jan Assmann – den Herr Fux, Direktor des St.Galler Völkerkundemuseums, in seinem Brief seltsamerweise als Gewährsmann für das Gegenteil nennt – warf der Stiftsbibliothek vor zwei Wochen in einem Interview „Pietätlosigkeit“ in Bezug auf Schepeneses sterbliche Überreste vor und fragte „ziemlich entsetzt“: „Wer wickelt eine Mumie aus?“ In der aktuellen Ausstellungsform sei Schepenese nichts anderes als ein „Gruseleffekt“ und ein Überbleibsel „europäischer Habgier“, so der Friedenspreisträger Jan Assmann.
Was schliesslich die Notwendigkeit der sofortigen Prüfung einer Restitution angeht, sind sich die im deutschen und ägyptischen Sprachraum führenden Spezialist*innen für Restitution einig und tragen deshalb den „Offenen Brief der Ägyptischen Zivil- und Forschungsgesellschaft“ und die „St.Galler Erklärung“ mit. Genannt seien hier nur Bénédicte Savoy, die für die französische Regierung den „Bericht über die Restitution afrikanischer Kulturgüter“ verfasste.
Die Zürcher Professorin Gesine Krüger, Spezialistin für Kolonialgeschichte. Oder Monica Hanna, die Gründerin des Instituts für „Cultural Heritage“ an der Universität Assuan und Mit-Initatorin der Kampagne „Lasst Schepenese heimkehren“. Dazu kommen Hunderte weitere Namen, darunter zahllose Ägyptolog*innen, Restitutions-Expert*innen und Spezialist*innen für menschliche Überreste. Sie alle fordern: Es ist an der Zeit, Schepenese in ihre Umhüllung und ihre Särge zurück zu führen und eine Restitution zu prüfen.
Dieser Überzeugung hat sich nun vor einer Woche auch die Stiftsbibliothek und der Katholische Konfessionsteil angeschlossen: Die Restitution soll gemäss Presseerklärung eingehend geprüft und zeitnah „würdig durchgeführt“ werden. Eine grosse Entscheidung, die nach eingehenden Gesprächen mit juristischen Expert*innen erfolgt ist. Was auch nicht weiter verwundert, denn die Fakten sprechen eine klare Sprache – siehe oben.
Dazu kommt: Die St.Galler Stiftsbibliothek betritt keineswegs Neuland, sondern reiht sich in eine aktuell übliche Restitutionspraxis ein. Mitte Oktober hat der Vatikan drei peruanische Mumien, die in ihrem Völkerkundemuseum untergebracht waren, „feierlich“ an ihr Heimatland zurückgegeben. Die irische Universität von Cork hat gemäss BBC gerade angekündigt, eine Mumie inklusive aller Särge zurückzugeben an Ägypten, zur Begeisterung der Aussenminister beider Länder. Im Gegensatz zu Schepenese stammt die Mumie aus Irland, der Heimat des St.Galler Klostergründers, nicht einmal aus einer Raubgrabung, sondern einer offiziellen archäologischen Ausgrabung.
Kurz: Rein wissenschaftlich ist der Fall Schepenese geklärt.
Und auch juristisch sind die Dinge so klar, wie sie bei Raub sein können. Politisch hinwiederum wäre die Rückgabe für die ägyptische Forschungsgesellschaft natürlich eine fantastische Nachricht. Oder mit den Worten von Monica Hanna: „Der Kampf um unsere kulturelle Vergangenheit und eine konsequente Aufarbeitung der Verbrechen des Kolonialismus öffnet ein Fenster des Austauschs und der Freiheit, das gerade in der aktuellen Lage für die ägyptische Forschungs- und Zivilgesellschaft von aussergewöhnlicher Bedeutung ist.“
Was die Kampagne „Lasst Schepenese heimkehren“ geschafft hat, ist es, ägyptische und deutschsprachige Spezialist*innen um den Fall Schepenese zu versammeln. In Absprache mit der Stiftsbibliothek wird nun aus den zahllosen Expert*innen eine transnationale Gruppe gebildet, die die Rückführung operativ mit den zuständigen Regierungen prüft.
Angesichts all dessen fragen sich viele natürlich zu Recht: Warum diskutieren wir den Fall noch immer? Die Fakten sind doch klar - warum also dieses Theater? Der Grund ist: Schepenese mag zwar 3000 Jahre alt sein, nach 200 Jahren vor Ort gehört sie aber auch ein wenig zu St.Gallen. Ähnlich wie der griechische Parthenon-Fries, dessen Restitution aktuell diskutiert wird, nach 200 Jahren im British Museum gefühlt auch ein wenig zu London gehört.
Ich persönlich habe als Kind und Teenager mehrfach die bis zur Brust ausgewickelte Leiche der Schepenese, wie 150‘000 andere Tourist*innen pro Jahr, besucht. Auch für mich gehört sie zu meiner Stadt, zu meiner Kindheit. Und zugegeben: Auch für mich war sie nicht Mensch, sondern „Gruseleffekt“, wie der Star-Ägyptologe Jan Assmann St.Gallen vorwirft.
Dieser Vorwurf, wie der der „europäischen Habgier“, ist nicht schön. Vor allem weil es nicht unserem eigenen Empfinden entspricht. Wir St.Galler*innen haben Schepenese liebgewonnen, wie illegal oder amoralisch ihr erzwungener Aufenthalt in der Stiftsbibliothek auch sein mag. Für uns ist sie, obwohl geraubt und gegen ihren Glauben ausgewickelt, „Botschafterin Ägyptens“, aufgehoben im „Sinnzusammenhang“ der Bibliothek, wie Cornel Dora, der Leiter der Stiftsbibliothek, mal so schön gesagt hat.
Denn neben einer Wahrheit der Wissenschaft gibt es auch eine Wahrheit des Herzens. Neben objektiver Gerechtigkeit gibt es auch ein (genauso starkes und reales) gefühltes Rechtsempfinden, das seine eigene Sensibilität und Geschichte hat. Dazu kommt: Man gibt nicht gerne zurück, was einem schon so lange gehört, dass es irgendwie schon immer da war. Oder wie der SVP-Politiker Götte in TV Ostschweiz sagte: „Schepenese gehört zu St.Gallen. Es bringt nichts, zurückzugehen vor 1820.“
Was tun?
Ich vermute, dass eine rein wissenschaftliche oder juristische Debatte nicht ausreicht. Wir werden vielleicht noch lange auch eine öffentliche Debatte brauchen, so tumultuös sie sein mag. Zuerst war ich, um ehrlich zu sein, über den extrem emotionalen Brief von Herrn Fux, welcher den spezifischen Fall Schepenese faktisch völlig ignoriert, geschockt. Aber wie gesagt: Neben Wissenschaft und Recht brauchen wir auch eine Debatte der Gefühle, der Ängste. Der Einzelfall Schepenese ist geklärt und der offizielle Restitutionsvorgang eröffnet.
Wir brauchen nun Zeit, das als Gesellschaft zu verarbeiten. In dieser Hinsicht ist der „Mumien-Streit“ tatsächlich, wie einige sagen, ein „Kulturkampf“. Denn es geht nicht „nur“ um eine Mumie. In Wirklichkeit geht es darum, wer wir sind, und was uns ausmacht: welche Werte, welche Geschichten, welche Dinge. Und zwar auf beiden Seiten, der ägyptischen wie der schweizerischen. Deshalb ist es so wichtig, diese Debatte gemeinsam mit allen politischen Parteien, vor allem aber gemeinsam mit Ägypten zu führen.
Ich bin überzeugt:
Wir haben viel dabei zu gewinnen. Schepenese kann Teil einer Geschichte des Austauschs und der Grosszügigkeit werden, einer schweizerisch-ägyptischen Geschichte. Einer Geschichte der „Gerechtigkeit“, um den „Offenen Brief der Ägyptischen Forschungs- und Zivilgesellschaft“ zu zitieren.»