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Stadt St.Gallen
24.09.2022
21.06.2025 21:18 Uhr

«Die Frau mit dem Köfferli», Teil 7: Die unterschätzte Stiftsbibliothek

Maria Hufenus (*1945) lebt im Riethüsli
Maria Hufenus (*1945) lebt im Riethüsli Bild: Archiv
Stadtführerin Maria Hufenus erinnert sich in ihren Memoiren «Die Frau mit dem Köfferli» an so manche Episode aus rund einem halben Jahrhundert Führungen durch die Gallusstadt. stgallen24 stellt jede Woche exklusiv ein neues Kapitel vor. Heute: Die unterschätzte Stiftsbibliothek.

Die unangenehmen Gäste zuerst: Das sind jene Schüler, die mit der Frage kamen: „Sie, wie lange geht der Seich?“ Einer davon liess anschliessend in der Kathedrale einen angebissenen Apfel fallen, worauf ich mich ins Restaurant zu einem Glas Prosecco verfügte.

Unangenehm waren auch jene Hundebesitzer, die ihre Lieblinge unbedingt in die Bibliothek oder in die Kathedrale mitnehmen wollten, mit der Begründung, das wären ja schliesslich auch Geschöpfe Gottes. Und wenn sie während der Besichtigung das Bein heben oder bellen?

Ein besonderer Fall war jener Kerl, der auf den Altar kletterte , damit er besser photographieren konnte. Als ich ihm befahl, sofort herunterzukommen, sagte er: „Ich glaube nichts!“ „Ja, dann haben Sie auf dem Altar auch nichts zu suchen, und am besten verlassen Sie jetzt die Kirche, und zwar schnell!“ Die Männer meiner Gruppe zogen dann mit finsteren Gesichtern die Ärmel hoch, worauf der Mann das Weite suchte. Ein Gast dieser süddeutschen Gruppe erklärte lächelnd: „Keine Angst, wir hätten ihn erst draussen verhauen!“

Im Allgemeinen waren aber meine Gäste angenehm, ausser vielleicht einigen „Besserwissern“. Einer, der bei einer zahlenden Gruppe mithörte und mich korrigierte, hatte nicht mit Professor Alois Niederstätter, der Studenten begleitete, gerechnet. Freund Niederstätter erklärte ihm nicht nur, was Anstand sei, sondern auch, dass ich mit meinen Ausführungen recht hätte und bedeutete ihm, seine Version für sich zu behalten oder ein Lexikon zu konsultieren.

Bild: Privatarchiv Maria Hufenus

DIE TREUESTEN KUNDEN

Zu meinen treuesten Kunden gehört „Terranova, romantisch reisen“ mit ihren Fahrradtouren um den Bodensee, mit Abstechern auf den Pfänder und nach St.Gallen. Der Besuch dieser „Radfahrer“ in der Stadt St.Gallen fiel während vierzig Jahren nur während der „Corona-Zeit“ aus.

Die „Terranova“ wurde einmal von einem Journalisten der Zeitschrift „Reisejournal“ begleitet. Ich arbeitete damals auch noch im Stadtarchiv. Ich gab dem betreffenden Journalisten meine Karte, falls er noch Fragen hätte. Am andern Tag rief er tatsächlich im Stadtarchiv an und ich meldete mich mit „Stadtarchiv, Hufenus“. Und so kam die neuernannte „Stadtarchivarin“ in die Zeitung. Am Abend des gleichen Tages war die Zeitung ausverkauft, und ein erstaunter Leser fragte Ernst Ziegler, warum man ihn „rausgeschmissen“ hätte. Die Hufenus mache zwar keine schlechte Falle; aber es müsse doch einen triftigen Grund geben, dass man einen beliebten Stadtarchivaren, der so viele Bücher geschrieben und immer gute Vorträge über St.Gallen gehalten habe, einfach so ersetze. Zudem erschienen doch im „Tagblatt“ immer wieder ganze Seiten über St.Gallen usw., usf., die doch sehr beliebt seien.

Eine andere Gruppe aus Deutschland war die „Internationale Theater- und Musikreisen Reiner Beck“ aus München. Die Gruppe kam immer mit einem grossen Car zum einst „festlichen Theatermai“ und logierte drei Nächte lang im Hotel „Einstein“. Für das Rahmenprogramm war ich zuständig: Weltkulturerbe, Stickerei, Wasserschloss Hagenwil, Appenzell usw. Nach dem Aus des Theatermais logierte die Gruppe fortan in Bregenz und kam nur noch zur Besichtigung des Weltkulturerbes nach St.Gallen.

Für die Aufführungen im Stadttheater kamen Gäste sogar aus Hamburg und anderen deutschen Städten, etwa Frankfurt, nach St.Gallen. Nach einer grossartigen Inszenierung von Verdis „Nabucco“ sagte mir ein deutscher Gast: „Das kriegen wir in München nicht hin.“ Er bedankte sich bei mir, wie wenn ich diese gewaltige Oper inszeniert hätte.

Bild: Privatarchiv Maria Hufenus

Eine andere eher unangenehme Erinnerung: Der Chef des Amtes für Kultur, Walter Lendi, bestellte einst eine französische Führung durch das Stiftsarchiv. Da ich dort noch nie geführt hatte, machte er für mich eine Einführung und gab mir Material, um mich einzuarbeiten. Das war ziemlich viel Arbeit für nur eine Führung. Ich hatte die Gruppe eben begrüsst, als Stiftsarchivar Werner Vogler kam mit der Bemerkung: „Hier führe nur ich!“ Sein Stellvertreter Lorenz Hollenstein flüsterte mir zu: „Du musst dich durchsetzen, sein Französisch ist miserabel.“ Und so war es denn auch! Ich konnte mich nicht durchsetzen, machte aber dann anschliessend die Führung im Grossratssaal. Auf die Frage eines Gastes, warum ich nicht die ganze Führung gemacht hätte, antwortete ich, er sei halt der Chef.

Ein Jahr später bestellte Werner Vogler eine Führung in Englisch für einen Samstag, ein Tag, an dem er keine Führungen machte. Ich sagte zu, unter der Bedingung, dass er vorher die Dokumente, die er gezeigt haben möchte, mit mir besprechen würde. Als ich beifügte, dass ich noch ein Dokument mit tironischen Noten (altrömische Kurzschrift) zeigen und erklären möchte, meinte er: „Sie sind ja gar nicht so dumm!“

Als Vogler hörte, dass ich den Gästen die oft verkannte und unterschätzte Bedeutung des Stiftsarchivs erklärte, war dann der „Hausfrieden“ für immer gerettet.

Bild: Privatarchiv Maria Hufenus

VORTRÄGE

Der neue Stadtarchivar der Ortsbürgergemeinde, Stefan Sonderegger, hatte 2003 die Idee, „Stadtgeschichte im Stadthaus“ anzubieten. Der erste Anlass fand im Sitzungsraum des Erdgeschosses statt, wo damals noch eine vielseitige Ausstellung zeigte, „wie sich die Stadt aus dem Schatten des Klosters heraus zum grossen Leinwand- und Handelszentrum entwickelt hatte“..

Die erste Veranstaltung gestalteten Stefan Sonderegger und ich zusammen. Er begann und sagte dann, wenn ein Thema kam, das ihm weniger behagte: „Jetzt kannst du weitermachen.“ Das ergab schliesslich ein lockeres „Potpourri“ und funktionierte prima.

Später kamen besondere Themen, vertieft und im Detail, dazu, die ich allein bestritt:
- Irland und St.Gallen
- Klosterstaat und Stadtrepublik
- Medizin in alten Zeiten
- Frauenbild in der Geschichte
- Hexenwahn
- Leinwand, Baumwolle, Stickerei -- das weisse „Gold“
- Von Kleidern und Haaren
- Heirats- und Ehesachen
- Vom Essen und Trinken im alten St.Gallen
- Wasserversorgung und Abfall
- „Wellness“ in alten Zeiten

Ein grosser Erfolg war mein Vortrag mit Führung über die „Kultur der Abtei St.Gallen“. An sich waren die Vorträge gratis; nur für diesen „Klostervortrag“ verlangte Stiftsbibliothekar Ernst Tremp einen Eintritt pro Person. Dabei war doch das ganze als „Goodwillaktion“ für das Kloster St.Gallen gedacht -- was der klösterliche Neidhammel allerdings nicht merken wollte.

Es waren dann aber alle diese Vorträge gut besucht, und es kamen immer mehr Leute, bis auch angeschleppte Stühle nicht mehr ausreichten und die jüngeren Leute am Boden sitzen mussten. (Obwohl es keinen Apéro gab).Zu einem dieser Anlässe geruhte einmal sogar Stiftsbibliothekar Tremp zu erscheinen, der dann seiner Nachbarin zuflüsterte: „Ja reden kann sie!“ Stefan Sonderegger meinte: „Da kannst du dir aber etwas einbilden.“

Vorträge hielt ich unter anderem auch am Clubabend der Zofinger „Business & Professional Women“, im Senioren-Kolleg in Mauren im Fürstentum Lichtenstein, im Schloss Dottenwil in Wittenbach, im Textilmuseum St.Gallen, im Tröckneturm zu Schönenwegen, im Lyceumclub St.Gallen. Vor dem kantonalen und dem städtischen Ärzteverein sprach ich über „Medizin in alten Zeiten“. Das hatte den Vorteil, dass wann immer ich zum Arzt musste, man mich bereits kannte.

Am Jubiläum „Hundert Jahre Berufs- und Frauenfachschule“ in der vollen St.Laurenzenkirche 1995 sprach ich zum Thema „Das Frauenbild in der Geschichte“. Als ich damals sagte, alle guten Eigenschaften hätten die Kinder vom Vater, nickten die Herren begeistert; als ich dann aber beifügte, die Frauen hätten sie noch, war das Gelächter gross und der Anlass wurde sehr heiter.

Mit meinen Vorträgen reiste ich auch ins Ausland, beispielsweise nach Bad Hersfeld. Bad Hersfeld und Fulda hatten einst eine enge Beziehung zum Kloster St.Gallen, war doch die Ausgangslage ähnlich. Die Schätze der Stiftsbibliothek belegen eine Zusammenarbeit und einen Austausch wie das mit vielen Klöstern der Fall war. Mit dem Honorar für die Vorträge in Deutschland war mir eine finanzielle Unterstützung der Arbeit meines Mannes Ernst Ziegler möglich: die Herausgabe der „Philosophischen Notizen aus dem Nachlass“ des Philosophen Arthur Schopenhauer (1788- 1860) sechs umfangreichen Bänden. Das macht mich noch heute stolz!

Bild: Privatarchiv Maria Hufenus

TRÖCKNETURM

Die Erhaltung des Tröckneturms verdanken wir dem Architekten Hans Jörg Schmid. In diesem Industriedenkmal wurde eine Ausstellung eingerichtet, die in der Schrift „Geschichte im Tröckneturm zu Schönenwegen in St.Gallen“ von 2007 beschrieben ist. (Der über hundert Seiten starke Band wurde von Ernst Ziegler unter Mitarbeit von Maria Hufenus, Hans-Peter Kaeser, Marcel Mayer, Stefan Sonderegger und Daniel Studer verfasst und zum 60. Geburtstag von Hans Jörg Schmid von Rolf Stehle herausgegeben.)

In diesem eindrucksvollen Bauwerk referierte ich oft über das „weisse Gold“ der Stadt St.Gallen, über Leinwand, Baumwolle und Stickerei sowie über die bauliche Entwicklung und den Fortschritt der Stadt: Theater, Tonhalle, Museen, Fussballclub, Volksbad, Rennbahn.

Hier fanden auch oft die Anlässe des „Liberalen Forums“ statt, wozu Geistesgrössen und Politiker eingeladen wurden, und zwar ohne Presse, damit wirklich frei diskutiert werden konnte, ohne dass man nachher von unbedarften Journalisten ungenau oder gar falsch zitiert wurde (was mir immer wieder passierte).

Irgendwann wurde der Tröckneturm vom Textilmuseum übernommen. Zwei der damaligen Direktorinnen stammten aus Wien und hatten keine Ahnung von unserer Geschichte. Diese textilen Koryphäen verboten mir dann, im Tröckneturm zu führen mit dem Argument, ich hätte mein Wissen vom Textilmuseum. Sie wussten natürlich nicht, dass das viele Wissen, welches die dortigen Führerinnen bekommen hatten, von mir stammte! Das bewog mich dann, das Textilmuseum, in welchem ich jahrelang geführt hatte, von meiner Angebotsliste zu streichen.

DIE UNTERSCHÄTZTE STIFTSBIBLIOTHEK

Ein Professor aus Genf, der an unserer Universität einen Vortrag gehalten hatte, wurde von mir abgeholt, um ihm die Stiftsbibliothek zu zeigen. Er aber wollte nur „ein paar alte Häuser sehen und etwas über die Geschichte St.Gallens hören“. Ich schlug ihm vor, wenigstens einen Blick in die Stiftsbibliothek zu werfen und dann das Weitere zu entscheiden. Nach zwei Stunden waren wir immer noch in der Stiftsbibliothek. Er war ganz begeistert und meinte, St.Gallen verkaufe sich sehr schlecht! Inzwischen dürfte sich das jedoch gebessert haben.

Mit einer Gruppe israelischer Journalisten erlebte ich dasselbe: „We are tired, we don`t want to see that library!“ Als ich sagte, es sei zur Zeit eine der ältesten Abschriften von Josephus Flavius (37/38 um 100) ausgestellt, wurden sie aufmerksam. Sie blieben, bis die Bibliothek geschlossen wurde, und wollten nicht nach Luzern weiterreisen mit der Begründung, Berge seien zwar schön, aber sie hätten sie gesehen; aber diese Kultur sei faszinierend. Als sie dann noch erfuhren, dass am Abend ein Konzert in der Kathedrale stattfand, musste der schweizerische Verkehrsdirektor, mit vorwurfsvollem Blick auf mich, umbuchen. Für mich war das ein wahrer Triumph!

Einmal hatten Studenten aus Bern anderthalb Stunden Stiftsbibliothek und Kathedrale gebucht. Nach zwei Stunden in der Stiftbibliothek wurde die Besichtigung der Kathedrale auf ein nächstes Mal verschoben, obwohl es damals in der Bibliothek nur den Barocksaal mit der Ausstellung zu sehen gab.

Durch das Epitheton ornans (schmückendes Beiwort) „Weltkulturerbe Stiftsbezirk St.Gallen“ wurde es ein wenig besser. Früher gab es auch keinen Katalog, sondern nur kleine Broschüren. Später wurden die Kataloge jeweils erst Mitte Jahr fertig. Erst als Franziska Schnoor kam, änderte sich das, und die umfangreichen Kataloge erschienen rechtzeitig zur Eröffnung der neuen Ausstellung.

ASGT ASSOCIATION SUISSE DES GUIDES TOURISTIQUES

Ein Kunde machte mich aufmerksam, dass es in Schaffhausen eine Führerin gebe, die sehr viel wisse. Da ich am Anfang auch Führungen in Appenzell und Schaffhausen machte, weil dort keine Führungen in italienischer Sprache angeboten wurden, suchte ich Kontakt zu Rixa Müller. Die erklärte mir, dass es Bestrebungen gäbe, eine Vereinigung der Stadtführerinnen und Reiseleiter zu gründen, Endziel sei, einen anerkannten Beruf anzustreben. Wir gründeten dann den „Verein Schweizerischer Reiseleiter und Stadtführer“.

Rixa Müller und ich leiteten zehn Jahre lang die Fortbildung: Zuerst Weltkulturerbe, dann Weltnaturerbe, später Gebräuche in den verschiedenen Gegenden der Schweiz (Aargau, Thurgau, Jura).

Aber nicht nur Geschichte und Kunstgeschichte wurden geboten. Wir besuchten auch das Kernkraftwerk Gösgen und den längsten Tunnel durch den Gotthard. Dank meines Mannes der im „Verein Schweizerischer Archivare“ war, fand ich immer hervorragende Referenten. Als Ariel P. Haemerlé begann, simultan zu übersetzen, wurden die Anlässe immer besser. Die Schönheit und Vielfalt der Schweiz wurden mir erst durch die Veranstaltungen der ASGT richtig bewusst.

Nach den Statuten mussten Rixa Müller und ich nach zehnjähriger Tätigkeit aufhören. Wir fanden aber gute Nachfolgerinnen, Ruth Blaser und Marie-Christine Egger. Dank dem Wachstum des Vereins war auch mehr Geld für die Weiterbildungen vorhanden.

Leider gab es Tourismusdirektoren, die meinten, unsere Ausbildung würde sich nicht lohnen und sie nicht beeindrucken, wir wurden weder mit Geld noch mit Buchmaterial unterstützt. Ich war anderer Meinung, denn es ist doch nicht egal, wie die Schweiz verkauft wird!.

Bild: Privatarchiv Maria Hufenus

Neben Verkehrsdirektoren, die Weiterbildung für unnötig hielten, gab es zum Glück auch andere, beispielsweise im Wallis, im Jura usw.

An erster Stelle möchte ich Hans Höhener aus Teufen, Verwaltungsrat der Säntis Schwebebahn, nennen. Er verschob die Revision der Säntisbahn für uns, offerierte ein Apéro in der Bahn, die für unseren Anlass ganz langsam fuhr, sodass man das Panorama geniessen konnte. Ein Reiseleiter aus dem Wallis meinte: „Regard, eux aussi, ils ont des montagnes!“ Hans Höhener war auch sonst immer sehr hilfsbereit.

Im März 2012 hatte die Präsidentin Renate Zulian die Idee, dass sich die Mitglieder der ASGT aktiv mitbetätigen könnten. Jedes Mitglied sollte über das Thema des Fortbildungswochenendes einen Bericht schreiben. Zum Beispiel für die Tagung in Murten: Das Herzogtum Burgund und die Burgunderkriege und deren Auswirkungen in der Region der Mitglieder. Die ersten zwei Jahre wurden die Arbeiten von Renate gesammelt und gedruckt. Seit 2014 hat Emma Anna Studer diese Tätigkeit fortgeführt. Die Dokumentation wurde und wird allen Teilnehmenden am Ende des Seminars kostenlos abgegeben. Interessenten können die Dokumentationen auch kaufen.

AGRARMINISTER AUS DER DRITTEN WELT

Erich Oberholzer (1926-2016) und ich führten diese Gruppe; er als ehemaliger Französischlehrer die Frankophonen und ich die englischsprachigen. Die Sommer-Ausstellung 1984 befasste sich mit den „Reformbewegungen in Kloster und Stadt St.Gallen“. Die Reformation war in mancherlei Hinsicht auch eine „Revolution“, ein Umsturz, der nicht ohne Härte ablief. Diese Führung war nicht einfach, musste ich doch zuerst erklären, was das Christentum bedeutete: Liebe und Nächstenliebe!

Aber auch immer wieder Streit um Auslegungen, Übersetzungen, Symbole und Macht, als der grösste Feind der Lehre Jesu Christi. Als ich bei einer Vitrine von den Übergriffen sprach, fragte ein afrikanischer Minister: „Warum Gewalt, das ist doch unchristlich?“ Ich entgegnete: „Dummheit ist grenzenlos!“ Ganz erstaunt antwortete er: „Sie sind der erste weisse Mensch, der zugibt, dass Weisse auch dumm sein können...“

Wir diskutierten noch heftig miteinander und er sagte unter anderem: „Das schlimmste an der Kolonialisierung unseres Kontinents war nicht die Sklaverei; die wurde auch von uns und überall betrieben; es war auch nicht die Ausbeutung unserer Bodenschätze, die heute noch beispielsweise von China betrieben wird; das Schlimmste ist, dass uns unsere Wurzeln genommen wurden. Und das macht unseren Kontinent kaputt!“ Schliesslich wollte er dann noch ein Foto von mir haben. Er, ein Afrikaner, ich, eine Katholikin, die miteinander vor dem Reformator Vadian posierten!

Solche Begegnungen mit andern Kulturen, Religionen und Ethnien waren immer unglaublich spannend und brachten einem zum Nachdenken. Ich staune auch immer wieder, wenn etwas verurteilt wirt, ohne dass man die Hintergründe kennt. In St.Gallen kommt es immer wieder zu Andeutungen und Demonstrationen wegen fremder Länder, wegen Reisen und Handel unserer Vorfahren, und schnell ist das Wort „Rassismus“ da, auch wenn die St.Galler Kaufleute bloss ihre Bildung, ihre Weitgereistheit zeigen wollten. Ein Beispiel ist das Haus „zum Mohrenkopf“ in der Spisergasse. Auch hier wird mit der „Rassismuskeule“ dreingehauen. Ich habe 2020 darüber Folgendes publiziert:

Bild: Privatarchiv Maria Hufenus

ST.GALLEN UND DER MOHRENKOPF

In der Spisergasse steht seit alten Zeiten das „Haus zum Mohrenkopf“. Wer dem Haus den heutzutage umstrittenen Namen gab und wann es ihn erhielt, ist noch nicht erforscht. Ob der Name mit dem alten St.Galler Geschlecht der Spiser oder Speiser zu tun hat?

Bürgermeister Joachim von Watt, genannt Vadianus, erklärte nämlich 1531 seinen Freunden, die Spiser führten in ihrem Wappen „ainen Mohrenkopf, mit wissen Binden umbschlagen“. Dieses Wappen ist auch in der Chronik des Johannes Stumpf (1547) abgebildet. (Mohr kommt von Maure, die Mauren hatten eine hohe Kultur und wurden sehr bewundert.)

Die Spiser waren ein altes st.gallisches Ministerialgeschlecht, das einst als äbtisches Lehen die Spisegg an der Sitter unterhalb von St.Josefen besass. Der Dispensator, der Hausverwalter, der Speiser hatte am äbtischen Hof das Ernährungswesen unter sich.

Vielleicht haben die Spiser den Mohren d. h. Mauren gewählt für den heiligen Mauritius, nach der Legende Anführer der Thebäischen Legion und Märtyrer. Er wurde von Gallus verehrt, der die Reliquien von Mauritius und Desiderius nach St.Gallen gebracht hatte.

Mauritius und Desiderius sind an der Fassade der Kathedrale und vor der Galluskapelle verewigt.

Der nächste Schritt ist schon geschehen: Von den „Heiligen Drei Königen“ den Weisen aus dem Morgenland, ist Melchior kein „Mohr“ mehr. So gesehen bei den sogenannten „Sternsingern“ im neuen Jahr 2022.

VON MARIA UND JOSEF, DEM JESUSKIND UND DEN ENGELN

Im Zusammenhang mit dem „schwarzen König Melchior, der ein „Mohr“ war (Karl Heinrich Waggerl: Und es begab sich ...), ist mir folgende Jugenderinnerung in den Sinn gekommen: Ich durfte als Kind bei allen Krippenspielen nie die Maria sein. Ich war schwarzhaarig, und Maria war bekanntlich blond. Ich durfte auch kein Engel sein, weil die auch alle blond sind.

Nur ein Schaf war für mich möglich. Ich kam weinend nach Hause, wo mich mein Bruder tröstete, indem er mir erklärte, die Engel seien sowieso alles Männer. Das war zuviel für mich, und ich rannte heulend zu meiner Mutter, der ich erklärte, mich freut der ganze Himmel überhaupt nicht mehr!

CHINESISCHER BESUCH AUS BERN

Im Februar 1986 führte Stadtarchivar Ernst Ziegler, damals Präsident der Betriebskommission der Stiftung St.Galler Museen, Zheng Yongbo von der Botschaft der Volksrepublik China in der Schweiz, durch die Museen. Anschliessend fand ein Mittagessen statt, an dem auch Vertreter der Museen teilnahmen. Am Nachmittag führte ich Herrn Yongbo durch die Stiftsbibliothek und die Kathedrale.

Vor dem Abschied sagte er mir: „Ich bin beeindruckt wie hier die Kultur gepflegt wird, wenn auch manchmal mit viel Glück. Ihr habt in St.Gallen mehr chinesische Kulturgüter als wir in China, weil bei uns während der Kulturrevolution soviel zerstört wurde.“ Ist China da allein?

Den ersten Teil von «Die Frau mit dem Köfferli» finden Sie hier.
Den zweiten Teil von «Die Frau mit dem Köfferli» finden Sie hier.
Den dritten Teil von «Die Frau mit dem Köfferli» finden Sie hier.
Den vierten Teil von «Die Frau mit dem Köfferli» finden Sie hier.
Den fünften Teil von «Die Frau mit dem Köfferli» finden Sie hier.
Den sechsten Teil von «Die Frau mit dem Köfferli» finden Sie hier.

Maria Hufenus im Web: stadtfuehrungen.sg

Maria Hufenus, St.Gallen
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