Die Ausgangslage könnte aktueller nicht sein: Während Schnitzler in Professor Bernhardi mit der Geschichte über einen jüdischen Arzt, der einen katholischen Priester von der Salbung einer todkranken Patientin abhält und den aufkommenden Antisemitismus im Österreich des beginnenden 20. Jahrhunderts thematisiert, geht Robert Icke in seiner Bearbeitung des Klassikers einen Schritt weiter. Er schärft das Stück vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Debatten um Identitätspolitik.
Die Hauptfigur in Die Ärztin ist Ruth Wolff – eine weisse, queere Frau mit jüdischen Wurzeln.
Sie leitet das Elisabeth-Institut, eine Alzheimerklinik, wo sie einem schwarzen katholischen Geistlichen die Salbung einer todkranken Patientin verwehrt. Der Vorfall führt betriebsintern zu einem Skandal und wächst sich in den sozialen Medien zu einem regelrechten Shitstorm aus.
Die Öffentlichkeit fordert, dass Ruth sich für ihr Verhalten entschuldigt. Diese jedoch beharrt auf ihrer Integrität und ist sich sicher, nichts falsch gemacht zu haben. Bald stehen sowohl ihre persönliche, als auch die Zukunft der Klinik auf dem Spiel.
Die Ärztin veranschaulicht, wie unser Denken, Sprechen und Handeln davon geprägt werden, welche Erfahrungen wir in der Welt machen
– immer im Wissen, dass Identitäten nie einseitig sind, sondern sich aus vielen verschiedenen Aspekten zusammensetzen. So treibt das Stück den bei Schnitzler angelegten Konflikt auf die Spitze und zeigt die sozialen Mechanismen, die in Kraft treten, wenn verschiedene Gruppen um die Deutungshoheit der Realität kämpfen.
Gleichzeitig ist Die Ärztin ebenso thrillermässig spannend, wie witzig – bereits Schnitzler hatte Professor Bernhardi als Komödie konzipiert. In der St.Galler Inszenierung von Die Ärztin widmet sich das hauseigene Ensemble gemeinsam mit den Gästen Heidi Maria Glössner, Téné Ouelgo, Maya Alban-Zapata und Nils Torpus diesem Stoff. Als Musiker konnten Michael Flury, Annie Aries und Christian Müller gewonnen werden.