Dass La traviata am Samstag überhaupt Premiere feiern konnte, grenzt an ein kleines Wunder: Wegen zahlreicher Corona-Ausfällen musste der Chor laufend mit Sängern aus Zürich, Basel und sogar Innsbruck ergänzt werden, die Zeit reichte nur für eine gemeinsame Generalprobe mit der finalen Besetzung.
Aber das Ensemble und Jan Henric Bogen, zurzeit noch Operndirektor, ab der Spielzeit 2023/24 dann Theaterdirektor, wollten die Premiere unbedingt durchziehen, wie Bogen in einer Ansprache unterstrich – und, soviel sei vorweggenommen: es hat sich gelohnt, die Improvisationen waren zu keinem Moment zu hören. Chapeau!
Das erste, was das Premierenpublikum am Samstagabend zu hören bekam, war dann allerdings nicht etwa Libiamo, das berühmte Duett mit Chor aus La traviata, sondern die ukrainische Nationalhymne, gespielt und gesungen vom St.Galler Theaterensemble. Ein überaus ergreifender Moment, den Jan Henric Bogen als Zeichen der Solidarität mit dem geschundenen Land integriert hatte.
La traviata ist ein dankbares Stück:
Neben Aida und Nabucco wohl Giuseppe Verdis bekannteste Oper trumpft mit einer emotionalen Arie nach der anderen auf, ein stimmigewaltiges Duett folgt auf das nächste, rauschende Festmusik allenthalben.
Dies umzusetzen, ist dem Theater St.Gallen vorzüglich gelungen, nicht zuletzt dank der beeindruckenden Leistungen von Francesco Castoro (Alfredo Germont, Sohn) und Kartal Karagedik (Giorgio Germont, Vater).
Über allem schwebte aber Vuvu Mpofu – die südafrikanische Sopranistin gab die Violetta Valéry mit Hingabe, Herz, Seele und einer Stimme, die sich hinter keiner der bekannt(er)en Violetta-Interpretinnen zu verstecken braucht. Ganz grosses Kino, was die erst 31-Jährige aus Port Elizabeth, die seit 2021 am St.Galler Musiktheaterensemble engagiert ist, da abliefert – schon alleine wegen ihr lohnt sich der Besuch von La traviata (wörtlich: Die vom Weg Abgekommene).
Traditionalisten aber aufgepasst:
Das moderne Bühnenbild darf einen ebensowenig schrecken wie die schrillen Kleider der Darsteller im Rock'n'Roll-Disco-Pop-Stil. Das Gerüstelement im Zentrum der Bühne symbolisiere Violettas Welt, sagt Regisseurin Nina Russi, das leere Zentrum stehe für Violetta, um die sich das Lebenskarussell drehe. Kann man so sehen, mich hat die modernisitische Inszenierung zumindest nicht gestört; zu gut war die musikalische Umsetzung, als dass ihr das karge Bühnenbild etwas anhaben könnte.
Was hingegen störend ist, ist, dass Regisseurin Russi Verdi ins Handwerk pfuscht, sozusagen: So dichtet sie Violetta kurzerhand eine Tochter an, die zwar herzig anzuschauen ist, aber keinen einzigen Ton zu singen hat. Wie auch? Verdi hat Violetta nicht als Mutter definiert, auf die Idee wäre er nie gekommen.
Warum also verschlimmbessert Russi eine der besten Opern überhaupt?
Ihre Begründung: Sie sehe Violetta «als moderne, mutige und unabhängige Powerfrau». Und als eine solche würde sie Giorgio Germonts Bitten, die Finger von seinem Sohn Alfredo zu lassen, um die Ehe seiner Tochter nicht zu gefährden, kaum nachgeben. Für ihre uneheliche Tochter hingegen müsse Violetta über ihren Schatten springen, dem Wunsch des Schwiegervaters entsprechen und Alfredo verlassen – damit sich dieser nach ihrem Tod um die (nicht gemeinsame) Tochter kümmere ... aha.
Nina Russi spricht damit dem Publikum die Fähigkeit ab, La traviata im historischen Kontext verstehen zu können – und vergreift sich am Werk des Grossmeisters aus Mailand. Das ist nicht nur überflüssig, sondern unverschämt, und gereicht der Inszenierung nicht zum Vorteil.
Abgesehen davon aber ist La traviata ein Genuss. Gewiss, mit einem reicheren Bühnenbild und zeitgenössischen Kostümen hätte man vielleicht noch mehr aus dem Stoff holen können. Sprache und Musik sind 19., Optik und Ästhetik 21. Jahrhundert – das reibt sich immer, und selten zum Guten.
Der Verzicht auf Opulenz fördert aber zumindest die Fokussierung auf das Wesentliche, die Musik. Und die ist dem Theater St.Gallen einmal mehr richtig gut gelungen. Das unterstrich das Premierenpublikum denn auch mit einer langen, begeisterten Standing Ovation zum Schluss.