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Stadt St.Gallen
04.03.2022
04.03.2022 15:07 Uhr

«Putin steht nicht für ganz Russland»

Aléna S. in Moskau
Aléna S. in Moskau Bild: zVg
Während die Solidarität für die Ukrainer überwältigt, erleben Menschen mit russischen Wurzeln eine Wucht an Hass. Die St.Gallerin Aléna S. kommt aus Rostow am Don – knapp 100 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt – und erzählt, was Wladimir Putins Angriff mit ihr und ihrer Familie macht.

Die Lage der Stadt Rostow am Don unweit des Schwarzen, des Asowschen, des Kaspischen Meeres und die Kanäle, die Rostow mit der Ostsee und dem Weissen Meer verbinden, haben ihr neben dem «Tor zum Kaukasus» auch den Namen «Stadt der fünf Meere» eingebracht.

In der zehntgrössten und südlichsten Stadt Russlands, die nur 100 Kilometer von der ukrainischen Grenze trennt, leben über eine Million Menschen. Darunter viele Armenier, Georgier, Juden, Griechen, Kalmücken. Die verschiedenen Sprachen prägen das Bild der Stadt, das Angebot auf den Märkten und in den Restaurants.

Auch Aléna S.* kennt Rostow als multikulturellen Dreh- und Angelpunkt.

Sie selbst ist eine «Korjo-Saram», auch Russland-Koreanerin genannt. Zum Ende des 19. Jahrhunderts endete die Joseon-Dynastie, und viele Bauern aus dem koreanischen Hinterland wanderten in den russischen Osten ein – in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

Auch nach der russischen Revolution und dem Entstehen der Sowjetunion setzte sich die koreanische Einwanderung nach Russland fort. Korjo-Sarams gehören zu den integriertesten Minderheiten Russlands.

«Besonders die jüngere Generation leidet in Russland unter der Politik», sagt die St.Gallerin. Bild: zVg

«Als Kind lernt man, eine Kalaschnikow zu laden»

2006 verliess die heute 26-jährige Aléna S. Rostow und kam zu ihren Grosseltern nach St.Gallen. Ihre Mutter und Geschwister leben noch heute dort. Sie selbst hat die Schule in Russland bis zur vierten Klasse besucht. «Russland ist sehr von Kriegen geprägt. Das spürt man schon als kleines Kind. Wenn wir schulische Ausflüge gemacht haben, dann zu ehemaligen Kriegsorten. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass Mädchen und Jungs ab einem gewissen Alter im Hauswirtschaftsunterricht getrennt wurden. Wir haben gelernt, wie man Krawatten und Hemden bügelt – und die Buben, wie man eine Kalaschnikow lädt.»

Vieles sei damals noch im Aufbau gewesen, viele Produkte, die man hier kennt, gab es Anfang des 21. Jahrhunderts noch nicht. «Ich habe meinem Bruder Converse-Schuhe aus der Schweiz mitgebracht, weil man diese in Russland nicht kaufen konnte», sagt Aléna zu stgallen24. Im Oktober 2021 besuchte sie ihre Familie erneut in Rostow. Dass dies der letzte Besuch war, bevor nur wenige Monate später kein Flieger mehr aus der Schweiz nach Moskau abhebt, konnte die Sozialpädagogin nicht ahnen.

Glückliche Momente mit ihrer Familie im Oktober 2021 Bild: zVg

«Als ich vom Angriff auf die Ukraine gehört habe, war ich schockiert. Im Gegensatz zu vielen anderen beschäftigt mich die ganze Thematik aber schon seit Jahren, und die Kritik an Wladimir Putin ist mir ebenfalls nicht neu. Es gibt sehr viele Menschen in Russland, die mit der Regierung nicht einverstanden sind, sich dagegen auflehnen, auf die Strassen gehen und demonstrieren. Aber sie bleiben unerhört oder kommen ins Gefängnis.»

Putin spaltet Generationen

Die Ereignisse in den letzten Tagen beschäftigen die 26-jährige St.Gallerin sehr und sie ist im ständigen Kontakt mit ihrer Familie. «Viele denken, dass alle Menschen in Russland hinter dem stehen, was Putin macht, aber das stimmt nicht. Die ältere Generation ist schon sehr von der staatlichen Propaganda beeinflusst, aber viele junge Menschen möchten einfach nur Russland verlassen. Durch die Sanktionen ist dies aber kaum mehr möglich. Viele fühlen sich machtlos, schämen sich und haben Angst. Der Freund meiner Schwester könnte beispielsweise jederzeit in die Armee gerufen werden. Wenn er sich widersetzt, droht ihm Gefängnis.»

Dass es so viel Solidarität und Mitgefühl für die Menschen in der Ukraine gibt, findet Aléna richtig und wichtig – dass Menschen mit russischen Wurzeln aber derzeit so viel Hass erfahren müssen, tut ihr weh.

«Für die Menschen in Rostow sind Ukrainerinnen und Ukrainer wie Brüder und Schwestern. Im Internet wird so viel Hass gegenüber Russinnen und Russen verbreitet, obwohl diese den Krieg scharf verurteilen. Denn was oft vergessen wird, ist, dass auch in Russland viele Zivilisten unter der Politik leiden. Und zwar schon sehr lange. Die Mittelschicht spürt schon jetzt die Sanktionen stark und junge Leute werden noch perspektivloser, während sich die Reichen aus dem Staub machen.»

Wann und wie sie ihre Familie wiedersieht, weiss Aléna S. derzeit nicht. Auch Geld könne sie keines mehr schicken. «Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, sie über Korea in die Schweiz zu holen. Aber das hängt stark von den nächsten Entwicklungen ab. Momentan habe ich einfach nur Angst und wünsche mir, dass die Situation nicht weiter eskaliert, keine Menschen mehr sterben müssen und die Welt versteht, dass Putin nicht für die ganze Bevölkerung Russlands steht. Hass ist nie eine Lösung.»

*Name der Redaktion bekannt

Miryam Koc/stgallen24
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