Folge 5: K.-o.-Tropfen
«Die Sache ist relativ einfach, diesmal», begann die Rechtsmedizinerin, Dr. Céline Fröhlich, und lachte. «Treten Sie ein in mein Totenreich, und schauen sich alles genau an. Ungeniert.» Die drei Leichen lagen auf drei Chromstahltischen, mit grünem Tuch zugedeckt, nahebei waren noch einige andere ersichtlich, wohl derzeit nicht in Arbeit. «Übrigens, bei uns gilt Maskenpflicht für alle, auch die Toten, gell.»
«Wir sind nicht tot – und die Sichtung, muss nicht unbedingt sein, wir vertrauen Ihnen auch so. Wirklich. Wir verzichten gerne darauf.» Kraienbühl wollte sich abwenden, dezent angewidert. «Hiergeblieben, Chraie», befahl der Kommissar. «Was gibt es Neues?»
«Dieser Herr da, der Jüngere aus dem Wasserturm beim Bahnhof, wurde erstochen, mit einem scharfen Stellmesser, ca. 20cm lang, dreimal in Bauch und Herz, sauber tranchiert, wie Fleischkäse, ihr kennt das. Eine nicht verheilte Lungenentzündung, positiv. Allgemeinzustand eher schlecht. Alter? Etwa 35 Jahre alt, aber immer noch kräftig. Das Erbrochene stammt übrigens nicht von ihm, sondern – von einer Frau …! Da staunen Sie, gell. Ihr Tom Wichtelmann von der Kriminaltechnik konnte wieder mal keine Dokumente sicherstellen, wieder einmal nichts! Schade, mein Wichtelchen.»
Pause.
«Und hier die beiden Alterchen, um die 80, beide. Allgemeinzustand noch schlechter, ich habe auf eine Autopsie verzichtet, konnte sie auch nicht auf demselben Tisch sichten, äh … behandeln, musste sie zuerst trennen. Sie hielten sich gegenseitig noch an der Hand, gemeinsam in den Tod. Süss, nicht? Na ja, im Sarg sind sie auch nicht mehr beisammen, gell. Und im Ofen ebenfalls nicht, oder gibt’s keine Kremation? Die Öfen sind übrigens neu, aber einen für Paare haben wir immer noch nicht im Sortiment – eine Marktlücke. Eine Nouveauté, mehr noch: Eine Sensation. Gemeinsam im Ofen. Das wäre der Durchbruch für St. Gallen!
Waren Sie schon mal im Krematorium beim Friedhof Feldli, zu Besuch? Lohnt sich in jedem Fall, eine Besichtigung vor Ort, absolut, vorgängig natürlich …» Die Rechtsmedizinerin schmunzelte leicht.
«Leider auch hier keine Dokumente. Die Bluttests reichten. Der gute Tom hat mir lediglich diese beiden Plastikbecher mitgebracht.»
«Letzter Wille? Den wissen wir nicht, solange die Namen nicht bekannt sind; gibt es Verwandte …? Wichtelmann sucht noch, in dieser Kapelle, St. Maria Einsiedeln in Schönenwegen, und im Tröckneturm», bemerkte Häfeli.
«Aha. Sucht noch.» Kraienbühl schaute der Rechtsmedizinerin ins Gesicht und lächelte. Anzüglich? Eher verschmitzt, meinte er doch, über die angebliche Beziehung zwischen Dr. Fröhlich und Wichtelmann Bescheid zu wissen.
«Also ganz trocken waren die nicht, überhaupt nicht. Ziemlich viel Alkohol im Blut, vor allem der Mann, die Frau dazu noch Hagebutten-Tee, ebenfalls viel.»
«Hagebutten-Tee. Soso. Eine Vergiftung, von den Hagebutten?»
«Nein, Barbiturate, hinreichend; ähnlich wie K.-o.-Tropfen, wie wir es von jungen Frauen her kennen, zunehmend aber auch bei Männern eingesetzt, in dubiosen Bars und Clubs, heimlich in den Drink gemixt. Aber hier fand natürlich keine Vergewaltigung statt. Klar. Kennt ihr euch mit K.-o.-Tropfen aus, aus eigener Erfahrung? Wirkt brutal schnell. Ausgiebig. Und wird zunehmend auch als letzter Drink eingesetzt. Ja genau, Sterbehilfe. Es gibt da so eine Firma mit zweifelhaftem Ruf, Lifestoppnow, heisst der Laden. Kennen Sie den?»
Kraienbühl schüttelte den Kopf. Häfeli schwieg.
Es schneite immer noch stark, als sich die beiden auf den Weg machten, dieser Sterbehilfe-Bude einen Besuch abzustatten. Frau Holle setzte alles Material ein, das sie hatte. Grosse, schöne, blaue, silbrige Schneeflocken purzelten zu Boden, glitzerten und glänzten, und legten den Verkehr lahm, entschleunigten das Leben. Beruhigten. Ruhe wem Ruhe gebührt. Gut so.
«Ich bin echt gespannt auf diese Lifestoppnow-Fritzen», sagte Häfeli zu seinem Assistenten. «Sind wir auf der richtigen Spur?»
Am nächsten Sonntag geht’s weiter!