Home Region Sport Magazin Schweiz/Ausland Agenda
Stadt St.Gallen
20.01.2022

Wenn die Pfarrerin die Kanzel zersägt

Ein ungewöhnlicher Anblick: Die Pfarrerin mit Motorsäge in der Hand.
Ein ungewöhnlicher Anblick: Die Pfarrerin mit Motorsäge in der Hand. Bild: Uwe Habenicht
Eben stand die Pfarrerin noch auf der Kanzel. Jetzt zieht sie ihren Talar aus, setzt einen Schutzhelm auf und streift eine Sicherheitshose über. Dann hört man schon die ohrenbetäubenden Geräusche der Motorsäge. Sie setzt die Motorsäge an und zersägt die Kanzel.

Was sich anhört wie eine Szene aus einem Kinofilm, spielte sich vor wenigen Wochen in einem Kirchgemeindehaus in St.Gallen ab. Pfarrerin Kathrin Bolt hat die dortige alte Kanzel zersägt. Nicht etwa aus Frust oder Enttäuschung, weil niemand mehr ihre Predigten hören will, sondern als symbolische Geste. Die Zeiten der Predigtmonologe sind endgültig vorbei. Wir sollten mehr zuhören und auf Augenhöhe Erfahrungen austauschen.

Die Künstler Patrik und Frank Riklin vom St.Gallter Atelier für Sonderaufgaben haben eine Motorsägen-Challange ausgeschrieben. Bolt war dafür nominiert worden und sollte nun mit einer Motorsäge ein Stück Realität aus etwas heraussägen und damit etwas Neues schaffen. Deshalb ist die Kanzelzersägung auch nur der erste Teil dieser Aktion. Denn in einem zweiten Schritt werden Jugendliche der Kirchgemeinde aus der zersägten Kanzel einen Abendmahlstisch bauen. Aus dem Monolog-Möbel wird ein Ort des Gesprächs und des Austauschs: ein gemeinschaftlicher Tisch. Darum trägt die gesamte Aktion den Titel «Vom Monolog zur Tischgemeinschaft».

Bild: Uwe Habenicht

Die Kirchgemeinde Straubenzell wird an den vier Sonntagen im Februar an diesem Tisch predigtfreie Gottesdienste und auch Abendmahl feiern. Wie schon vor zwei Jahren, als das Experiment mit predigtfreien Gottesdiensten begann und ein enormes Medienecho hervorrief, verzichten die vier beteiligten Pfarrer, Bolt, Regula Hermann, Carl Boetschi und Uwe Habenicht, aufs Predigen. Stattdessen werden sie andere Kommunikationselemente wie Spontan-Performances, Interviews, Expertengespräche und weitere dramaturgische Elemente für die Gottesdienstfeiern einsetzen.

Denn darin sind sich die vier Pfarrer einig: Es ist an der Zeit, vielfältigere, überraschendere und vielstimmigere religiöse Kommunikationsformen zu entwickeln. Das Experiment predigtfreier Gottesdienste versteht sich als eine bewusste Suche nach solchen zeitgemässen Formen. Um dafür Freiräume zu schaffen, muss man manchmal schon eine Motorsäge in die Hand nehmen.

Bild: Uwe Habenicht
pez/pd
Demnächst