Chuenagel, Oonagel; männlich, Singular; Bedeutung: Erfrierungen an Händen und Füssen
Zwar sind wir ins Jahr 2022 mit veritablen Frühlingstemperaturen gestartet, das ist allerdings nicht die Regel. Jedenfalls früher nicht.
Wo heute Weihnachts-Tauwetter angesagt ist, gab es früher nicht selten 50-80 cm Schnee und statt des diesjährigen «Neujahrs-Frühlings», klirrende Minustemperaturen. Ein Thema, welches Kindheits-Erinnerungen wach ruft und zeigt, dass man durchaus mit weniger Komfort und Luxus leben konnte.
Wir hatten zuhause keinen Kühlschrank. Bei Minusgraden gefror fast die Milch auf der Kellertreppe, die als Kühlschrankersatz galt. Zentralheizung gab es nicht. Die Schlafzimmer im oberen Stock des Hauses blieben stets unbeheizt. Trotzdem fand ich diese eisigen Winternächte wunderschön, denn die dünnen Fenster waren mit Eisblumen komplett zugefroren und vor dem Schlafengehen fasste jeder seine heisse Bettflasche bei der Grossmutter und ab gings ins Bett, das mit Bettflasche, selbstgestrickten Bettsocken, Leintuch, Wolldecke und dickem Federbett wunderbar kuschlig zum Träumen einlud.
Manchmal konnte die Kälte aber gnadenlos sein. Diese Erfahrung machte ich als Viertklässlerin. Ich wollte unbedingt am Silvestersingen dabei sein. Das hiess früh aufstehen. Sehr früh. Etwa um halb Fünf. Draussen beinahe ein Meter Schnee - das Thermometer war in der Nacht tief unter Null gefallen. Voller Elan packte ich die Schiffsglocke aus der Werkstatt meines Grossvaters und stürmte nach einer heissen Tasse «Banago» ( ich hasste dieses Zeug wie die Pest, denn wenn man Pech hatte, lag ein ekliger „Milch-Pelz“ auf dem grausligen Kakao) übermütig aus dem Haus. Ohne Mütze und Handschuhe. Stundenlang zogen wir mit Lehrern und Dutzenden von Schülern durchs Dorf und absolvierten Kilometer um Kilometer. Dabei sangen wir unsere Silvester – und Neujahrslieder, sammelten Geld, machten mächtig Lärm und – froren. Irgendwann spürte ich meine Hände nicht mehr, meine Ohren, meine Füsse.
Zwar liess ich mir die heissen Würstchen und den Tee, der danach auf dem Schulhausplatz verteilt wurde, nicht entgehen, doch als ich nach Hause kam und so gar nicht mehr auftauen wollte, machte man sich doch einigermassen Sorgen und ging mit mir zum Dorfarzt. «Das Kind» hatte sich Erfrierungen an Händen, Füssen und Ohren geholt und war komplett unterkühlt. Es folgte eine mehrtägige Bettruhe mit Erkältung und Fieber. Doch davor kam der «Chuenagel» oder «Oonagel». Es «chuenagelte» ganz übel in meinen Extremitäten, bis diese wieder aufgetaut waren. Fühlte sich an wie tausend Messer, die man mir in Hände, Füsse und Ohren steckte.
Mit Chuenagel, (auch Oonagel, Unagel, Unigler, Hornagel, Hurnagel, Hurnigel) wird eine schmerzhafte leichte Erfrierung bezeichnet. Der Chuenagel (Verb: chuenagle, unigle, hurnigle, etc.) äussert sich als stechender Schmerz, der dadurch hervorgerufen wird, dass durch die Kälte kontrahierte Blutgefässe nur noch ungenügend mit Blut versorgt werden und zu schnell wieder «auftauen».
Etymologisch gesehen hat der Chuenagel nichts mit Kuh oder Nagel zu tun. Das Grundwort geht gemäss Schweizerischem Idiotikon auf «Aglein» (Stachel) zurück. Das Bestimmungs-wort Chue- ist unklar. Laut einer Meinung soll es eine Abwandlung von Horn sein und sich dabei auf den Fingernagel beziehen (Nagelstechen, Nagelschmerz). Nac einer anderen Meinung sei es verwandt mit kühn und bezeichne damit eine Verstärkung, also ein «starkes Stechen».
Mir reichte es jedenfalls für alle Zeiten. Seit jenem Winter bleibe ich am Silvestermorgen konsequent im Bett. Bei Minus- oder bei Plustemperaturen.