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Schweiz
09.12.2025
09.12.2025 17:00 Uhr

Warum so viele ausländische Straftäter nicht ausgeschafft werden

Eigentlich hatte die Schweiz entschieden: Kriminelle Ausländer müssen raus
Eigentlich hatte die Schweiz entschieden: Kriminelle Ausländer müssen raus Bild: Archiv
Obwohl die Ausschaffungsinitiative seit 2016 in Kraft ist, werden zahlreiche verurteilte ausländische Straftäter nicht ausgeschafft. Die Gründe liegen in internationalen Verpflichtungen, fehlender Kooperation einzelner Herkunftsstaaten, juristischen Hürden und der gesetzlich verankerten Härtefallklausel. Wir zeigen, weshalb der Vollzug in der Praxis oft scheitert.

Mit der Annahme der Ausschaffungsinitiative im Jahr 2010 wollten die Stimmbürger erreichen, dass ausländische Straftäter konsequenter aus der Schweiz ausgewiesen werden. Seit 2016 sind die entsprechenden Bestimmungen in Kraft.

Trotzdem fällt die Vollzugsquote je nach Kanton sehr unterschiedlich aus, und viele Landesverweise bleiben unerledigt. Verschiedene Faktoren verhindern eine konsequente Umsetzung.

Fehlende Rücknahmebereitschaft der Herkunftsländer

Der wichtigste Hinderungsgrund ist die mangelnde Kooperation der Herkunftsstaaten. Einige Länder verweigern die Ausstellung notwendiger Reisedokumente oder erkennen ihre eigenen Staatsangehörigen nicht an.

Ohne gültige Papiere kann keine Ausschaffung erfolgen. Besonders schwierig gestaltet sich der Vollzug gegenüber Staaten, die grundsätzlich keine zwangsweisen Rückführungen akzeptieren oder nur sehr zögerlich mit den Schweizer Behörden zusammenarbeiten.

Völkerrechtliche Schranken und Schutzpflichten

Die Schweiz ist durch internationales Recht verpflichtet, niemanden in ein Land zurückzuführen, in dem Folter, unmenschliche Behandlung oder ernsthafte Gefahr für Leib und Leben drohen.

Diese Vorgaben gelten unabhängig vom Strafmass. Gerichte müssen deshalb in jedem Einzelfall prüfen, ob eine Ausschaffung zulässig ist. Für bestimmte Länder bestehen faktisch Rückschiebestopps, was den Vollzug verunmöglicht.

Unklare Identität und fehlende Dokumente

Viele Betroffene verfügen über keine Ausweispapiere oder geben unvollständige bzw. falsche Personalien an. Solange die Identität nicht zweifelsfrei geklärt ist, kann kein Staat zur Rücknahme verpflichtet werden. Das führt häufig zu langjährigen Verzögerungen.

Lange Rechtsmittelverfahren

Landesverweise können bis vor Bundesgericht und vereinzelt sogar bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte angefochten werden. Solange diese Verfahren laufen, dürfen Ausschaffungen nicht vollzogen werden, was die Umsetzung verzögert oder zeitweise blockiert.

Unterschiedliche kantonale Praxis

Die Vollzugsquote variiert stark zwischen den Kantonen. Während einige Kantone sämtliche Landesverweise umsetzen, liegen andere deutlich zurück. Gründe sind unterschiedliche Prioritäten, Ressourcen, organisatorische Abläufe und politische Rahmenbedingungen.

Weshalb es eine Härtefallklausel gibt – obwohl das Volk sie nicht beschlossen hat

Bei der Umsetzung der Ausschaffungsinitiative war das Parlament verpflichtet, die neuen Vorgaben so auszugestalten, dass sie sowohl mit der Bundesverfassung als auch mit internationalen Verpflichtungen vereinbar bleiben. Die Initiative selbst enthielt jedoch keinen detaillierten Gesetzestext.

Die Härtefallklausel wurde eingeführt, weil:

  1. die Verfassung eine Prüfung der Verhältnismässigkeit zwingend verlangt.
    Auch eine Volksinitiative kann dieses Grundprinzip nicht ausser Kraft setzen. Behörden und Gerichte müssen in jedem Fall prüfen, ob eine Massnahme in der konkreten Situation angemessen ist.
  2. internationale Menschenrechtsabkommen eingehalten werden müssen.
    Die Schweiz ist völkerrechtlich verpflichtet, den Schutz vor Folter, Menschenrechtsverletzungen oder familiärer Zerrüttung zu berücksichtigen. Eine vollständig automatische Ausschaffung wäre in vielen Fällen nicht zulässig gewesen.
  3. ein praxistaugliches Gesetz geschaffen werden musste.
    Ohne Härtefallklausel hätte die Schweiz wiederholt Gerichtsentscheide kassiert. Das Gesetz wäre in der Anwendung kaum stabil gewesen und hätte laufend korrigiert werden müssen.

Die Härtefallklausel wurde somit nicht dem Volk vorgelegt, sondern als «notwendiger Bestandteil der gesetzeskonformen Umsetzung der Initiative» eingeführt. Sie soll sicherstellen, dass der Vollzug weder gegen die Verfassung noch gegen internationales Recht verstösst.

Allerdings zeigt die bisherige Praxis, dass die Härtefallklausel (zu) häufig angewendet wird – oft deshalb, weil Gerichte familiäre Bindungen und persönliche Interessen der Täter stärker gewichten als den Schutzanspruch der Gesellschaft und die Interessen der Opfer.

Ziegler meint:

Ausschaffungsinitiative: Volkswille mit Sicherheitsventil

Die Ausgangslage ist eigentlich eindeutig: Das Volk hat 2010 Ja gesagt zu einer härteren Gangart bei ausländischen Straftätern. Wer bestimmte Delikte begeht, soll die Schweiz verlassen müssen. Punkt. Wer sich die aktuellen Vollzugszahlen anschaut, stellt allerdings fest: Auf dem Papier ist der Volkswille klar, in der Praxis ist er löchrig wie ein Emmentaler.

Der erste Teil der Erklärung ist nüchtern und wenig spektakulär: Die Schweiz kann niemanden in ein Land zurückschaffen, das ihn nicht zurücknimmt. Wenn Herkunftsstaaten keine Papiere ausstellen, die Staatsangehörigkeit bestreiten oder Zwangsrückführungen blockieren, stösst auch der entschlossenste Innenminister an Grenzen.

Dazu kommen internationale Verpflichtungen: Non-Refoulement ist kein Wunschzettel, sondern bindendes Recht. Wer bei einer Rückführung ernsthaft Folter oder Todesgefahr riskiert, darf nicht ausgeschafft werden – egal, was eine Volksinitiative fordert.

Damit liesse sich leben, wenn das System sonst konsequent funktionieren würde.

Tut es aber nicht. Die kantonalen Vollzugsquoten sind der beste Beweis. Wo der politische Wille hoch, die Zusammenarbeit der Behörden eng und die Priorität klar ist, werden fast alle Landesverweise vollzogen. Wo man das Thema lieber delegiert, relativiert oder einfach liegen lässt, bleiben Dossiers in Schubladen stecken. Das Recht ist überall dasselbe, die Konsequenz dahinter offensichtlich nicht.

Brisant wird es beim Thema Härtefallklausel. Sie wurde nachträglich ins Gesetz geschrieben, ohne dass das Volk darüber gesondert befunden hätte. Juristisch wird argumentiert, sie sei unvermeidbar gewesen, um Verhältnismässigkeit, Grundrechte und internationales Recht zu wahren.

Politisch hinterlässt das einen schalen Nachgeschmack: Die Stimmbürger haben eine harte Vorlage angenommen – und erhielten eine weichgespülte Version mit eingebautem Sicherheitsventil. Dass sich viele vor den Kopf gestossen fühlen, ist nachvollziehbar.

Die Härtefallklausel ist dabei nicht per se skandalös.

Es ist sinnvoll, zu verhindern, dass jemand nach Jahrzehnten in der Schweiz wegen eines einzelnen Delikts in ein Land ausgeschafft wird, zu dem er faktisch keinen Bezug mehr hat, oder dass Familien zerrissen werden.

Problematisch ist vielmehr, wie breit dieser Spielraum teilweise ausgelegt wird. Wer lange genug hier ist, gesundheitliche Argumente ins Feld führt oder eine geschickt formulierte Beschwerde einreicht, hat plötzlich Chancen, trotz Katalogtat bleiben zu dürfen. Die eigentlich als Ausnahme gedachte Klausel wird so schnell zur Regel.

Unterm Strich stehen zwei unbequeme Wahrheiten nebeneinander: Ja, die Schweiz ist an internationale Regeln gebunden und kann den Rechtsstaat nicht einfach abschalten. Und ja, die Politik hat mit der Art der Umsetzung der Ausschaffungsinitiative den Volkswillen verwässert. Beides unter einen Hut zu bringen, wäre Aufgabe der Politik.

Wer es ernst meint mit der Glaubwürdigkeit der direkten Demokratie, muss hier ansetzen. 

Entweder man sagt den Leuten offen: «Ein Teil dieser Initiative ist völkerrechtlich nicht umsetzbar, deshalb braucht es Korrekturen.» Diese müssen nachvollziehbar, einheitlich und breit akzeptiert sein. Oder man sorgt dafür, dass das, was im Gesetz steht, in allen Kantonen gleich konsequent vollzogen wird – und dass Härtefälle wirklich die Ausnahme bleiben.

Alles andere nährt den Eindruck, dass Volksentscheide zwar entgegengenommen, aber danach nach Belieben zurechtgebogen werden.

Stephan Ziegler, Chefredaktor stgallen24

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